Teil 1: Analysen
Am 29. Juni 2007 stellte Apple das iPhone vor und läutete damit eine Zeitenwende im Bereich der Technik ein. Das Smartphone wurde schnell unser ständiger Begleiter und änderte die Art, wie wir uns privat und beruflich austauschen sowie informieren. Das ist aber nur eine kleine Bewegung im Vergleich zu dem, was mit der gesamten Automatisierung und Digitalisierung der Wirtschaft auf uns zukommt. Künstliche Intelligenz (KI) und Robotics bringen unsere bisherigen Alleinstellungsmerkmale als Menschen, nämlich unsere kognitiven und feinmotorischen Fähigkeiten, ins Wanken und konkurrieren in Zukunft um einen großen Teil unserer Arbeitstätigkeiten. Schon heute können KI-Systeme z. B. Echtzeit-Übersetzungen in mehrere Sprachen ausführen und kommen den Leistungen menschlicher Übersetzer nahe.[1]
Noch spüren wir kaum Veränderung und sehen nur einen dünnen weißen Streifen auf dem Meer, doch der wird sich bereits bald als Schaumkrone einer gewaltigen Welle herausstellen. Allein die Rechenleistung von KI-Systemen hat sich innerhalb von fünf Jahren alle dreieinhalb Monate verdoppelt[2]. Künftig wird sich unser Leben immer mehr auf künstlichen Intelligenzen ausrichten, werden etwa auch Smartphones immer mehr dazu dienen, um mit KI zu kommunizieren. Die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen dieser Entwicklung werden enorm sein. Dabei hört man zunehmend Warnungen, u. a. vor massenhaften Jobverlusten, die uns in den nächsten zwei Dekaden drohen. Werden sich diese Warnungen bewahrheiten oder sind sie überzogen? Wird in unserem Beispiel der Mensch als Übersetzer in absehbarer Zeit verdrängt – oder kommt es doch anders?
Der analytische Blick: Jobverlust durch Automatisierung?
Im Jahr 2013 veröffentlichten zwei Forscher der Universität Oxford, Carl B. Frey und Michael A. Osborne, eine vielbeachtete Studie[3], nach der durch die bereits weitgehend gegebenen technischen Automatisierungsmöglichkeiten 47 Prozent der Berufe in den USA stark gefährdet[4] seien.
Seitdem ist eine Vielzahl weiterer Studien zu dem Thema erschienen, die allerdings zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kamen. So gelangten die Analysten der Bank ING-DiBa, die das Vorgehen von Frey und Osborne auf Deutschland übertrugen, in ihrer Studie[5] (2015) zu dem Schluss, dass 18,3 Millionen oder 59 Prozent der untersuchten Arbeitsplätze in Deutschland gefährdet seien.
Dagegen arbeiteten die Autoren einer OECD-Studie[6] (2016) von der Universität Mannheim mit einem anderen methodischen Ansatz. Ihre Sichtweise war, dass nicht Berufe als Ganzes, sondern spezifische Aufgaben bzw. Tätigkeiten am Arbeitsplatz dem Risiko der Automatisierung unterliegen und daher differenziert betrachtet werden müssen. Dieser Ansatz wurde zwischenzeitlich in einer neuen OECD-Studie[7] (2018) weiterentwickelt: Die Forscher sehen durchschnittlich 14 Prozent der Arbeitsplätze in den teilnehmenden 32 OECD-Ländern aufgrund der derzeitigen technologischen Möglichkeiten einem sehr hohen Risiko ausgesetzt – das betrifft 66 Millionen Arbeitnehmer dieser Länder. Weitere 32 Prozent der Jobs werden laut der Studie wahrscheinlich zu 50 bis 70 Prozent automatisiert und könnten vor erheblichen Veränderungen ihres Arbeitsinhaltes stehen. Für Deutschland wird ein sehr hohes Risiko durch Automatisierung für 18 Prozent der gegenwärtigen Jobs gesehen – bei Verwendung eines anderen Datensatzes sind es sogar 33 Prozent, was an der Robustheit der Analyseansätze und Zuverlässigkeit der Risikoabschätzung zweifeln lässt.[8]
Die aktuelle Studie[9] (2018) von PwC kommt zu ähnlichen Werten wie die Forscher der Universität Oxford: Bis Mitte der 2030er-Jahre seien durch die Automatisierung viele derzeit existierende Stellen erheblich bedroht – bis zu 38 Prozent in den USA, 37 Prozent in Deutschland und 34 Prozent in Österreich. Diese Größenordnung deckt sich weitgehend mit den Ergebnissen einer McKinsey-Studie[10] (2017). Ihr zufolge ist, um das Risiko von Arbeitsplatzverlusten zu bestimmen, allein das Ausmaß der Automatisierbarkeit der ausgeübten Tätigkeit zu betrachten, nicht der Beruf. Mit diesem Ansatz prognostizieren die Forscher für den Zeitraum 2016 bis 2030 bei einem Szenario der mittleren Automatisierungsgeschwindigkeit den Wegfall von ca. 9 Millionen Arbeitsplätzen in Deutschland. Weitere 3 Millionen Stelleninhaber seien gezwungen, neue Fertigkeiten zu erlernen oder ihre Beschäftigung zu wechseln. Das sind zusammen 32 Prozent der für das Jahr 2030 prognostizierten 37 Millionen Arbeitskräfte in Deutschland.
Der optimistische Blick: Arbeitsplatzaufbau durch Automatisierung?
Jüngere Studien zum Thema Automatisierung arbeiten neben der Bedrohung auch die Chancen für den Arbeitsmarkt heraus. Es wird argumentiert, dass der Prozess neue Berufsfelder und Nachfragen, z. B. nach Robotics, hervorbringe, aber auch einen Produktivitätsgewinn, der das Einkommen und den Wohlstand sowie dadurch Konsum, Nachfrage und Beschäftigung erhöhe. McKinsey betont in seiner Analyse außerdem Investitions- und Konsumeffekte durch das Altern der Weltbevölkerung (z. B. Investitionen in Gesundheit und Pflege) sowie das starke Wachstum der besonders konsumfreudigen Bevölkerungsanteile in den Schwellenländern. Die Analysten von McKinsey kommen zu dem Schluss, dass diese Effekte einem Arbeitsplatzabbau durch die Automatisierung entgegenwirken könnten. Für Deutschland prognostiziert McKinsey im „Trendline“-Szenario einen Stellenverlust von 9 Millionen bis 2030, aber gleichzeitig auch ein Aufbau von 10 Millionen. Die PwC-Analysten sehen ebenfalls zumindest für die USA und die EU-Länder die Chance für einen langfristigen Ausgleich von Jobverlust und Jobaufbau.[11]
Vorsicht ist die Mutter aller Hintertüren
Bezeichnend ist die Vorsicht aller Autoren, mit der sie die Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt beschreiben. So errechnen Frey und Osborne zwar, dass knapp die Hälfte der derzeitigen Arbeitsplätze in den USA durch die Digitalisierung bedroht sei, aber inwieweit es tatsächlich zu Arbeitsplatzverlusten kommt, versuchen die Autoren ausdrücklich nicht abzuschätzen („Our study wasn’t even a prediction.“). Sie verweisen auf Rahmenfaktoren wie die Verfügbarkeit billiger Arbeitskräfte, Kapitalkosten und politische bzw. legislative Bedingungen. Grundsätzlich gehen sie aber davon aus, dass die Automatisierung auch für alle nicht routinemäßigen Aufgaben, die keinen der „Engineering Bottlenecks“ (Kreativität, soziale Intelligenz, Fähigkeit zur Wahrnehmung und Feinmotorik in komplexen Situationen) unterliegen, in den nachfolgenden ein bis zwei Dekaden – eher unwillig und vage geschätzt – ausgeweitet werden könnte.
McKinsey arbeitet mit verschiedenen Szenarien und bewertet die Aussagekraft der Zahlen ebenfalls vorsichtig: Sie würden ihre Analyse nicht als Prognose verstehen, sondern vielmehr als Hilfestellung, um die Zukunft der Arbeit zu antizipieren und sich darauf vorzubereiten. Weitere Forschung wird angemahnt.
Die Vorsicht der Autoren ist verständlich. Die Zukunft ist auch mit dem Wissen über vermeintlich vergleichbare Entwicklungen in der Vergangenheit nur begrenzt vorhersehbar – und die zur Verfügung stehenden Daten sowie das Ausmaß der bekannten und noch unbekannten Einflussfaktoren erlauben allenfalls grobe Abschätzungen. Zusätzlich zeigt sich in den bisherigen Forschungen, dass selbst scheinbar geringe Änderungen der Berechnungsmodelle und alternative Datenquellen zu deutlich voneinander abweichenden Ergebnissen führen können.
Einigkeit herrscht, dass die folgenden Faktoren einen bedeutenden Einfluss auf die Geschwindigkeit sowie das Ausmaß der Automatisierung – unabhängig von der grundsätzlichen technischen Durchführbarkeit – haben werden:
- Wirtschaftlichkeit: Kosten für Entwicklung und Einsatz von Automatisierungstechnologien, Kapitalkosten, Lohnkosten (inkl. Ausbildungskosten),
- Verfügbarkeit von Arbeitskräften (Quantität und Qualität),
- soziale Akzeptanz und politische Rahmenbedingungen (inklusive Regulation, z. B. des Arbeitsmarktes),
- technische Fortschritte bei der Substitution originär menschlicher Fähigkeiten in den Bereichen der kognitiven und sozialen Intelligenz, Wahrnehmung und Feinmotorik.
Ebenso ist unstrittig, dass Automatisierungstechnologien einerseits eine bedeutende Anzahl von Arbeitnehmern aus ihren Jobs verdrängen und einen großen Anteil der fortbestehenden Berufe stark verändern, andererseits aber auch neue Berufe schaffen werden. Unsere Arbeitswelt und unser Arbeitsmarkt stehen nach Meinung sämtlicher Autoren in den kommenden Jahrzehnten vor gravierenden Veränderungen – und wir alle sind mittendrin.
Das erwartet Sie in den nächsten Beiträgen
Das Risiko der Automatisierung ist nicht gleichmäßig auf die Arbeitnehmer verteilt. Welche Sektoren, Berufe und Arbeitnehmergruppen laut den Forschungen besonders von der Automatisierung betroffen sind und welche möglichen Folgen sich daraus für die Gesellschaft ergeben, werde ich im nächsten Teil von „Automatisierung: Jobkiller oder Jobmaschine“ betrachten. Verraten sei schon so viel, dass auch hier die Prognose bzw. Abschätzung von Bedrohungspotentialen immer schwieriger wird, umso mehr sie über Tendenzbeschreibungen hinausgehen sollen. Um beim Eingangsbeispiel des Übersetzerberufes zu bleiben: Während die Annahme einer schnellen Verdrängung der menschlichen Übersetzer durch KI plausibel scheint, gibt es ebenso gute Gründe anzunehmen, dass zumindest im Bereich der professionellen Übersetzungen der Beruf nicht wegfällt, sondern sich den neuen Technologien und wirtschaftlichen Möglichkeiten anpasst[12]. Menschliche Übersetzer könnten z. B. künftig Textentwürfe der KI-Systeme überarbeiten, das Training neuronaler Netze der KI-Systeme mit ihrer Fachexpertise begleiten oder sich vermehrt auf komplexe Texte und Fachtexte spezialisieren, für die eine KI noch für einen längeren Zeitraum nicht ausreichend gut trainiert werden kann.
Im dritten Teil von „Automatisierung: Jobkiller oder Jobmaschine“ werde ich die Auswirkungen auf den HR-Bereich in den Blick nehmen und Antworten auf die Fragen suchen: Welche neuen Aufgaben und Ziele stellen Automatisierung und Digitalisierung für HR? Welche Möglichkeiten der Automatisierung bestehen mit bereits heute vorhandenen Technologien selbst für die Personalarbeit – und welche weiteren Entwicklungen sind absehbar?
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PS: Dieser Beitrag ist rein privat und steht in keinem Zusammenhang mit Firmen oder Organisationen.
Quellen:
[1] Netzwelt (2018): „Microsoft: KI übersetzt Chinesisch ins Englische wie ein Mensch“. https://www.netzwelt.de/news/164237-microsoft-ki-uebersetzt-chinesisch-ins-englische-mensch.html (aufgerufen am 22.10.2018).
[2] OpenAI-Blog (2018): „AI and Compute“. https://blog.openai.com/ai-and-compute (aufgerufen am 21.10.2018).
[3] Frey, C. B. & Osborne, M. (2013): „The future of employment. How susceptible are jobs to computerization“. https://www.oxfordmartin.ox.ac.uk/downloads/academic/The_Future_of_Employment.pdf (aufgerufen am 20.10.2018).
[4] Diese Gefährdung sehen die Autoren bei einer Automatisierungsmöglichkeit der Berufe von über 70 Prozent.
[5] ING-DiBa (2015): „Die Roboter kommen. Folgen der Automatisierung für den deutschen Arbeitsmarkt“. https://www.ing-diba.de/binaries/content/assets/pdf/ueber-uns/presse/publikationen/ing-diba-economic-analysis-die-roboter-kommen.pdf (aufgerufen am 20.10.2018).
[6] Arntz, M., Gregory, T. & Zierahn, U. (2016): „The Risk of Automation for Jobs in OECD Countries: A Comparative Analysis“, OECD Social, Employment and Migration Working Papers, No. 189, OECD Publishing, Paris. http://dx.doi.org/10.1787/5jlz9h56dvq7-en (aufgerufen am 20.10.2018).
[7] Nedelkoska, L. &. Quintini, G. (2018): „Automation, skills use and training“, OECD Social, Employment and Migration Working Papers, No. 202, OECD Publishing, Paris. http://dx.doi.org/10.1787/2e2f4eea-en (aufgerufen am 20.10.2018).
[8] Die Autoren schlussfolgern: „This suggests that we need to be very cautious when interpreting the findings of this and similar studies.“, S. 98.
[9] Die Autoren der PwC-Studie sehen Berechnungsartefakte im Prognosemodell der OECD-Studie von 2016 und kommen nach einer Korrektur zu vergleichbaren Ergebniswerten wie Frey und Osborne, die Autoren der Universität Oxford. Diese sehen im gewählten Ansatz ebenfalls eine Unterschätzung der Gefährdung durch Automatisierungsmöglichkeiten, vgl. Frey, C. & Osborne, M. (2018): „Automation and the future of work – understanding the numbers“, Oxford Martin School and University of Oxford: https://www.oxfordmartin.ox.ac.uk/opinion/view/404 (aufgerufen am 20.10.2018).
[10] McKinsey Global Institute (2017): „Jobs lost, jobs gained: Workforce transitions in a time of automation“. https://www.mckinsey.com/~/media/mckinsey/featured%20insights/future%20of%20organizations/what%20the%20future%20of%20work%20will%20mean%20for%20jobs%20skills%20and%20wages/mgi-jobs-lost-jobs-gained-report-december-6-2017.ashx (aufgerufen am 20.10.2018).
[11] PwC (2018): „The macroeconomic impact of artificial intelligence“. https://www.pwc.co.uk/economic-services/assets/macroeconomic-impact-of-ai-technical-report-feb-18.pdf (aufgerufen am 20.10.2018).
[12] Ferose, V.R., Pell., B. & Pratt, L. (2018): „From The Business Of Language To The Language Of Business: The Future Of Translation Worldwide“. https://www.digitalistmag.com/machine-learning-ai/2018/05/17/future-of-translation-worldwide-06168565 (aufgerufen am 21.10.2018); vgl. auch Siepmann, Dirk (2018): „Übersetzen als Rechenkunst“. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/hoch-schule/uebersetzen-als-rechenkunst-das-sprachprogramm-deepl-und-die-zukunft-der-fremdsprachendidaktik-15828221.html?printPagedArticle=true#void (aufgerufen am 23.10.2018)